Ascheland
Details
Die Sonne bringt die allgegenwärtige Asche, die weich auf dieser Welt ruht, zum Glänzen. Deutschland, 2023, fünf Jahre nach dem Untergang der bekannten Welt: Zacharias Brandt wandert mit seiner dreibeinigen Hyäne Else durch das postapokalyptische Mitteldeutschland. Die wenigen Überlebenden sind weit verstreut und doch kennt man ihn überall. Er ist der Kindermacher, der vermutlich einzige Mann, der noch Nachkommen zeugen kann. Der ehemalige Zoowärter ist aber kein Freund der Menschen, die er für die Verwüstung der Welt verantwortlich macht. Doch wenn er etwas bekommen will, muss er auch etwas geben. Ist es ein Fluch oder ein Segen, dass er ihnen Hoffnung geben kann? Will er ihnen wirklich eine neue Generation schenken? Auf seinem Weg begegnet Zacharias Menschen, die ihn in seinen Ansichten bestätigen, aber auch solchen, die ihm neue Perspektiven aufzeigen und ihrerseits Hoffnung geben. Und während er ihnen eine neue Zukunft schenkt, sieht er in seinen Träumen immer wieder ein altes, efeubewachsenes Haus. Liegt dort seine Zukunft?
Autorentext
Oliver Kyr arbeitet seit 1993 als Autor, Regisseur und Schriftsteller. 2011 erschien seine Novelle "Audrey und der Tod" im Noel-Verlag, das Hörbuch dazu war in zwei Kategorien für den Deutschen Hörbuchpreis "Ohrkanus" nominiert. 2012 veröffentlichte er zusammen mit Elmar Matt das Kinderbuch "Meine Freundin Scarlett", es folgte die Seelenreise "Rendezvous mit Eve" (Red Iguana). Oliver Kyr reist zurzeit mit seiner Familie als Story-Nomade in einem Wohnmobil durch Europa. Im Oktober 2016 erscheint sein erster Roman "Ascheland" bei acabus. Sein Video-Blog "PegasusPowWow" ist seit Frühsommer 2016 bei YouTube und www.pegasuspowwow.de online zu sehen. Sein zweiter Spielfilm "Live.Die.Love" wird voraussichtlich 2017 gedreht. www.oliverkyr.com
Leseprobe
- März 2023, nördlicher Schwarzwald Das dunkle Holz der Stiege seufzt unter meinen Schritten. Ich starre hinauf, dem fleckigen Kleid der Frau hinterher, bemüht, Schritt zu halten. Sie hat es eilig. Das linke Bein setzt sie vorsichtiger auf als das andere. Ihre rechte Hand mit den frisch, aber unsauber lackierten Fingernägeln hebt den fleckigen Rock eine Handbreit. Als ob er noch zu retten wäre. Kurz hält sie inne, lacht unsicher, ein geisterhaftes, verstörendes Geräusch. Dann steigt sie weiter hinauf. Ohne sich nach mir umzudrehen. Der violette, grob gestrickte Schal auf ihren Schultern verleiht ihr etwas eigenartig Pastorales. Ich zwinge mich, nicht an den armen Kerl unten in der Wohnküche zu denken. Wie er da hockt, traurig und stumm, den Blick ins erbärmliche Feuer des alten Kachelofens gerichtet. Seinen Filzhut in den Händen drehend und windend, als ob er eine andere Gegenwart aus dem Stoff wringen könnte. Die Frau heißt Brigitte, sagt sie. Ich registriere den Namen und lasse ihn sofort wieder los. Es ist ein Tauschgeschäft, kein Kennenlernen. Sie muss hübsch gewesen sein, damals, vor ein paar Jahren, vor einer Ewigkeit. Schön sogar. Ein Bild von ihr steht unten auf einer von Würmern zerfressenen Anrichte. Langes, dunkelblondes Haar, strahlende Augen, ein Lächeln zum Sterben. Jetzt ist davon nicht mehr viel übrig. Wir sind jetzt oben. Sie öffnet eine schwere Tür, und wir betreten einen dunklen, kleinen Raum, dessen muffige und schwere Luft mir den Atem raubt. Die Frau entzündet eine kleine Petroleumlampe. Aus dem von Ruß geschwärzten Glas schaut mich mein eigenes Gesicht an. Kurz nur, dann drehe ich mich weg. Ich kann die Frau nicht anschauen und mich selbst noch weniger. Ich sollte daran gewöhnt sein, nach all der Zeit. Aber noch immer drängt das Bild des Kerls unten in der Stube in mein Bewusstsein. Ich bin seine einzige Chance auf einen Neuanfang, aber der Weg dorthin raubt ihm den Verstand. Natürlich. Die Frau schlüpft mit einer schnellen Bewegung aus ihren Kleidern. Wie ein zerplatzter Traum taumelt der fleckige Rock mit dem Spitzensaum zu Boden und bleibt liegen. Ich begegne dem unsicheren Blick der Frau, und schenke ihr ein dünnes Lächeln. Ein Lächeln, das ich geprobt habe, im Spiegel ruhiger Seen. Ein Lächeln, das ihr Sicherheit geben soll. Die Sicherheit, das Richtige zu tun. Und mir die Sicherheit von Nahrung und Unterkunft. Wenn du etwas bekommen willst, musst du etwas geben. Das einzige Gesetz der neuen Welt. Ich ziehe den nackten Körper der Frau zu mir hin und wische den säuerlichen Geruch, der ihr entströmt, aus meinem Bewusstsein. Sie schaut zu Boden, während ihre Hände kraftlos herunter hängen. Ihre kleinen Fußzehen stoßen gegen meine schweren Stiefel, dann fällt ihr Kopf an meine Schulter und sie weint. Ganz leise. Ich streiche ihr übers strohige Haar. Dann drücke ich sie sanft von mir weg und streife meine schwere Kleidung ab. Führe sie zu dem breiten Bett mit den Schnitzereien am Kopfteil: ein Eber, eine Hirschkuh, ein Fuchs. Primitiv ins helle Holz gearbeitet. Der Kerl unten war wohl Jäger. Oder ist es immer noch. Die Frau zittert, und ich decke sie mit der struppigen Wolldecke zu, die am Fußende liegt. Ich lege meine Hand sanft auf ihre Augen, und sie schließt die Lider. Ich lege meine Lippen auf ihre, und sie öffnet den Mund. Ich atme warme, stickige Luft aus ihrer Mundhöhle und schließe selbst die Augen. Ihr Atem riecht nach kaltem Braten und Hoffnungslosigkeit, nach feuchter Erde und trockenem Stroh. Ich stelle sie mir vor, wie sie auf dem Foto unten aussieht. Das lange, dunkelblonde Haar. Der zauberhafte Blick. Die Sommersprossen rund um ihren vollen Mund. Ich träume sie mir schöner. Damit es schneller geht. Die Frau beginnt zu stöhnen, leise, fast unhörbar. Vermutlich, um sich selbst in trügerische Leidenschaft zu wiegen. Es ist mir egal. Alles, was hilft, ist willkommen. Ihre Hände beginnen, mich zu berühren. Legen sich wie kalte Frösche auf meinen Rücken und mein Hinterteil. Ihr Mund will den Kuss nicht lösen, und meine Nase saugt gierig den letzten Rest von Sauerstoff ein, der durch den kleinen Raum wabert. Als ich in sie eindringe, drängt sich das Bild ihres Mannes vor mein inneres Auge. Wie er da unten in der Stube sitzt, Tränen im Blick, den Filzhut im verkrampften Griff. Und versaue mir damit um ein Haar das Tauschgeschäft. Als es vorbei ist, dreht sie sich weg. Ihre Schultern beben, sie weint wieder. Ich ziehe mich schweigend an und betrachte sie. Dann breite ich die Wolldecke über ihr aus und lege für einen kurzen Moment meine Hand auf ihre Wange. Sie reagiert nicht. Starrt nur zu dem kleinen Fenster, durch das die Spitzen der düsteren Tannen hereinstarren. Warum ist alles so geworden? Ihre Stimme, zitternd wie ein dünner Schwarm Motten, bemüht sich um Fassung. Was haben wir falsch gemacht? Tränen stehen in ihren Augen. Sie streicht mit einer Hand über ihren Bauch, schaut mich dann fragend an. Ich lasse sie liegen und gehe die enge Holzstiege hinunter. Als ich unten ankomme, ist das Bild der schönen Brigitte in mir bereits zu unscharfem Nebel verblasst. Ich spüre Else, die draußen im kalten Nebel auf mich wartet. Der Jäger meidet meinen Blick und streckt mir mit schroffer Ablehnung einen großen Weidekorb entgegen. Er hat sich den zerknitterten Hut aufgesetzt, offensichtlich, um sich einen letzten Rest von Würde zu verleihen. Vergebens. Ich stelle den Korb auf den rissigen Esstisch. Pilze, Beeren, Streichhölzer, ein kleines Fläschchen Selbstgebrannter. Ein Jagdmesser mit primitiven Schnitzereien auf dem Griff. Ein Glas Marmelade, halb voll. Ich packe die Sachen in meinen Rucksack und lasse die Eier und die Milch im Korb liegen. Rühre sie nicht an. Ich atme tief ein, und zum ersten Mal, seit ich das kleine Gehöft angesteuert habe, fällt ein Wort. Meines. Ich suche ein kleines Haus. Efeu an den Mauern. Ein dunkler Holzzaun. Zwei Linden, riesige. Kennen Sie das? Er antwortet nicht. Sein Blick bleibt auf den Ofen gerichtet. Als ob er im zitternden Feuer Abbitte suchen würde. Kennen Sie das? Meine Stimme ist jetzt schärfer. Obwohl ich bereits weiß, dass er es nicht kennt. Er schaut mich unsicher an, sein Blick we…
Weitere Informationen
- Allgemeine Informationen
- Sprache Deutsch
- Herausgeber Acabus Verlag
- Gewicht 233g
- Untertitel Roman (Postapokalypse)
- Autor Oliver Kyr
- Titel Ascheland
- Veröffentlichung 06.02.2018
- ISBN 978-3-86282-449-6
- Format Kartonierter Einband
- EAN 9783862824496
- Jahr 2018
- Größe H216mm x B139mm x T20mm
- Anzahl Seiten 216
- Lesemotiv Eintauchen
- Auflage Originalausgabe
- GTIN 09783862824496