Jedem seinen eigenen Tod
Details
Das Sterben wird längst nicht mehr verdrängt und verschwiegen, es gehört vielmehr zu den ausgiebig erörterten Themen unserer Zeit. Viele Debatten ranken sich um Sterbehilfe und um die Frage, was einen guten Tod ausmacht. Dabei scheinen wir uns bemerkenswert einig zu sein, dass gut stirbt, wer bis zuletzt er oder sie selbst bleibt. Wir wünschen uns, so die These dieses Buches, unseren »eigenen Tod«: ein Lebensende, wie es uns entspricht, ein authentisches Sterben. Dieses Ideal leitet in unterschiedlicher Weise die Palliativversorgung und die Sterbehilfebewegung an. Doch Nina Streeck zeigt, dass sich das, was so erstrebenswert klingt, als anspruchsvoll entpuppt. Die Idee des »eigenen Todes« droht sich in ihr Gegenteil zu verkehren: in einen Zwang zum authentischen Sterben.
»Wer dem Ideal vom guten Lebensende nicht genügt oder genügen möchte, muss mit dem Vorwurf leben (und sterben), hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben zu sein. Unter anderem aufgrund dieser dialektischen Verkehrung vom Ideal in Erwartung respektive Zwang hofft man auf Turbulenzen in der Debatte um den eigenen Tod. Nina Streeck hat hierfür ein überaus wichtiges Buch verfasst, das [] möglichst viele Leser*innen finden möge.« Jean-Pierre Wils, Soziopolis, 14.07.2020 »Die Arbeit Nina Streecks erfreut sich vielfältiger und dennoch tiefgreifender Fundierungen in unterschiedlichen Disziplinen und Theorien. Mit ihrer begrifflichen Präzision und sprachlichen Gewandtheit gelingen ihr sowohl eine überzeugende Konzeption eines differenzierten Authentizitätsideals mitsamt expliziter Benennung ihrer Grenzen als auch eine ausgesprochen ausgewogene und distanzierte Darstellung der Palliative-Care- und Sterbehilfebewegung.« Florian Funer, Zeitschrift für medizinische Ethik, 67 / 2021 »Nina Streeck hält mit ihrem Buch Jedem seinen eigenen Tod Palliative-Care-Fachpersonen den Spiegel vor. Sie sollen Patientinnen und Patienten die eigene Vorstellung eines guten Todes nicht aufdrängen.« palliative zh+sh, 04.09.2020 »Das gut lesbare Buch sei deshalb allen empfohlen, die sich kritisch mit dem anspruchsvollen und zum Teil überfordernden Ideal des selbstbestimmten, authentischen, durchgeplanten Lebens und Sterbens auseinandersetzen wollen, aber auch jenen, die sich unabhängig von der Frage nach dem guten Sterben mit dem Authentizitätsbegriff beschäftigen möchten.« Martina Schmidhuber, Ethik Med (32), 425426, 28.09.2020
Autorentext
Nina Streeck ist Fachverantwortliche »Ethik und Lebensfragen« am Institut Neumünster, Zollikerberg.
Leseprobe
Einleitung O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Rainer Maria Rilke Als Rainer Maria Rilke seine berühmten Verse über den Tod zu Papier brachte, hatte er das Sterben im Krankenhaus einer Großstadt am Anfang des 20. Jahrhunderts vor Augen: Der Mensch gerät in die Mühlen eines anonymen Medizinbetriebs, der ihn daran hindert, seinen Lebensweg auf ihm gemäße Weise zu beschließen und seinen »eignen Tod« zu sterben. Gegen ein solches Sterben, wie es in den damaligen städtischen Spitälern für gewöhnlich vorkommt, wendet sich Rilke im Buch von der Armut und vom Tode, dem die Zeilen entstammen. Den »kleinen Tod« in den Sterbebetten »ganz im Dunkel« in »verhüllten Hinterzimmern« kontrastiert er mit dem »großen Tod, den jeder in sich hat« (Rilke 1905). In ihm verbindet sich das Sterben mit der Biografie eines Menschen. Liebe, Sinn und Not, die einem Leben unvergleichliche Bedeutung verleihen, finden ihre Vollendung in einem ebenso einzigartigen Sterben, in dem sich die Geschichte des Einzelnen rundet. »Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer, dass es nicht unser Tod ist« (ebd.), schreibt Rilke. Unser Tod: Als solcher ist er die reife Frucht eines liebe- und sinnvollen, aber auch von Zeiten der Not geprägten Lebens. Rilkes vor mehr als hundert Jahren niedergeschriebene Worte sprechen bis heute viele Menschen an, wovon zahllose Zitierungen in Ratgebern zum Thema Sterben und Tod, in Fachartikeln und Beiträgen zur Debatte um Sterbehilfe oder in Todesanzeigen und auf Trauerfeiern zeugen. Offenbar hat der »eigne Tod« für viele von uns einen hohen Wert. Obwohl über diverse Fragen, die das Lebensende betreffen, heiß gestritten wird, scheint uns der Wunsch, in eigener Weise zu sterben, zu einen. Auch wo die Meinungen differieren, ob assistierter Suizid oder die Tötung auf Verlangen moralisch zulässig sind, wann der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen angebracht ist oder inwiefern die Patientenverfügung einer nicht mehr einwilligungsfähigen Person Berücksichtigung erfahren soll, lässt sich als gemeinsamer Nenner ausmachen, dass es wünschenswert sei, wenn jemand sterben kann, wie es ihm entspricht. Folgt man Rilke, verwirklicht sich diese Hoffnung, sofern der Tod zur Persönlichkeit und zur Lebensgeschichte eines Menschen passt. In diesem Sinne fällt die Antwort auf die alte und stets aktuelle Menschheitsfrage nach dem guten Tod einmütig aus: Gut stirbt, wer im Einklang mit sich selbst sein Leben zu einem individuell stimmigen Abschluss bringt. Was der eigene Tod für den Einzelnen bedeutet, gestaltet sich freilich ebenso höchstpersönlich wie die gesamte Lebensführung zuvor. Wenn Rilke ihn erbittet, benennt er lediglich ein formales Kriterium für ein gelingendes Sterben, aber bestimmt keine konkreten Merkmale wie etwa Schmerzfreiheit oder inneren Frieden. Die Frage nach dem guten Sterben dient meinen Überlegungen als Ausgangspunkt und als roter Faden; für die Suche nach einer Antwort begebe ich mich auf Rilkes Spuren. Damit ist bereits im Groben umrissen, was ich im Folgenden beabsichtige: Ich nehme eine Untersuchung des Wunsches nach dem eigenen Tod vor, gehe also dem Vorschlag nach, als gut ein Sterben zu betrachten, das zu einer Person und ihrem Leben wahrhaft passt. Meine Überlegungen drehen sich darum, was es mit diesem Sterbeideal auf sich hat, vorneweg, was sich hinter der opaken Wendung vom »wahrhaften Passen« verbirgt. Sie umfassen aber auch eine Kritik dieser Vorstellung von einem guten Sterben, die schließlich in die skeptische Frage mündet, ob man die Idee des eigenen Todes nicht klugerweise verabschiedete, und falls nicht, wie sie sich sinnvoll verstehen lässt. Doch zunächst gilt es, grundsätzliche Fragen zu klären: Warum überhaupt sollte man sich Gedanken machen, wie man gut stirbt? Und weshalb könnte sich lohnen, darüber nachzudenken, was es mit dem eigenen Tod auf sich hat? Zur Reflexion kann zunächst verleiten, dass Menschen seit jeher bewegt, was ein gutes Sterben ausmacht und wie es sich verwirklicht, obschon nicht jederzeit in gleichem Ausmaß. Nach einer längeren Phase des Schweigens oder der »Todesverdrängung« (Feldmann 2010: 64) im 20. Jahrhundert handelt es sich heute wieder um ein Thema, das offenkundig viele Menschen umtreibt. Zahlreiche Beiträge über das Sterben in Zeitungen und Zeitschriften, Weblogs, (auto-)biografischen Büchern, Talkshows oder Dokumentarfilmen deuten darauf hin, wie intensiv die Frage viele beschäftigt. Zur Diskussion steht sie darüber hinaus namentlich vor allem in zwei Kontexten: Erstens hat sie ihren angestammten Platz im Feld der Palliative Care und der Hospizbewegung. Wer Palliativversorgung in Anspruch nimmt oder ein Hospiz aufsucht, hat den Tod bereits vor Augen. Sein Leben neigt sich dem Ende zu, kurative Behandlungen gehören der Vergangenheit an, der Sterbeprozess hat begonnen, so dass die Frage in den Mittelpunkt rückt, wie sich die letzte Lebensphase in angemessener Weise begleiten und gestalten lässt. Das gute Sterben gehört deshalb zu den zentralen Themen palliativmedizinischer Schriften; sowohl in der Fachliteratur als auch in populärwissenschaftlichen Ratgebern wird es ausgiebig erörtert. Zweitens stößt die Frage nach dem guten Tod in der Medizinethik und in der Moralphilosophie zunehmend auf Interesse. Dort verbindet sie sich vielfach mit dem Wunsch, die als festgefahren erlebten Debatten über Sterbehilfe in einem Dialo…
Weitere Informationen
- Allgemeine Informationen
- GTIN 09783593512358
- Auflage 1. A.
- Sprache Deutsch
- Größe H212mm x B141mm x T23mm
- Jahr 2020
- EAN 9783593512358
- Format Kartonierter Einband
- ISBN 978-3-593-51235-8
- Veröffentlichung 12.03.2020
- Titel Jedem seinen eigenen Tod
- Autor Nina Streeck
- Untertitel Authentizität als ethisches Ideal am Lebensende
- Gewicht 451g
- Herausgeber Campus Verlag GmbH
- Anzahl Seiten 340
- Lesemotiv Orientieren
- Genre Sonstige Religionsbücher