LASS DAS GEHEN
Details
Lass das gehen, das ist vorbei!, pflegten Wilhelm und Sabine Merl zu erwidern, wenn man sie auf die Jahre des Nationalsozialismus und Holocausts in Wien ansprach. Jene Jahre, in denen sie als Juden von Verfolgung und Deportation bedroht waren. Durch ihr Schweigen geriet viel Wissen über die eigene Herkunft und Geschichte in Vergessenheit. Ihr Urenkel Pascal Merl hat in jahrelangen Recherchen die Geschichte der Familien seiner Urgroßeltern zusammengetragen: von den Anfängen in den 1870er-Jahren im Armenhaus der österreichisch-ungarischen Monarchie über den Ersten Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit in der Ersten Republik bis zum Holocaust und dem Neuanfang ihrer Nachkommen.
Autorentext
Pascal Merl wurde 1990 in Freistadt geboren. Nach dem Abschluss des Gymnasiums studierte er Lehramt Englisch und Geschichte in Linz und schloss das Studium mit einer Arbeit über die Kindheit seines jüdischen Großvaters im Wien der Zeit des Nationalsozialismus und Holocausts ab. Neben seiner Arbeit als Mittelschullehrer begleitete Pascal Merl in den vergangenen Jahren seinen Großvater zu Vorträgen und Zeitzeugengesprächen an Schulen und setzt nun dessen Tätigkeit als Vertreter der dritten Generation fort.
Klappentext
"Lass das gehen, das ist vorbei!", pflegten Wilhelm und Sabine Merl zu erwidern, wenn man sie auf die Jahre des Nationalsozialismus und Holocausts in Wien ansprach. Jene Jahre, in denen sie als Juden von Verfolgung und Deportation bedroht waren. Durch ihr Schweigen geriet viel Wissen über die eigene Herkunft und Geschichte in Vergessenheit. Ihr Urenkel Pascal Merl hat in jahrelangen Recherchen die Geschichte der Familien seiner Urgroßeltern zusammengetragen: von den Anfängen in den 1870er-Jahren im Armenhaus der österreichisch-ungarischen Monarchie über den Ersten Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit in der Ersten Republik bis zum Holocaust und dem Neuanfang ihrer Nachkommen.
Leseprobe
Vorwort Es gibt ein einziges Foto von meinen jüdischen Urgroßeltern Wilhelm und Sabine Merl und mir. Es muss im Frühling 1991 aufgenommen worden sein, da wir uns in ihrem Gartenhaus, das Teil eines Kleingartenvereins im 18. Wiener Gemeindebezirk ist, aufhalten, in dem sie oft die warmen Frühlings- und Sommertage verbrachten. Auf dem Foto sitze ich auf dem Schoß meines schon sehr gebrechlich wirkenden Urgroßvaters Willi, wie er meist genannt wurde. Meine Urgroßmutter, die seit ihrer Jugend gerne mit Sonja angesprochen werden wollte, sitzt im leicht dunklen Hintergrund. Mit zunehmendem Alter lehnte sie es ab, fotografiert zu werden, was sich in ihrem ernsten Gesichtsausdruck äußert. Meine Mutter Gerlinde täuschte vor, nur meinen Urgroßvater und mich abzulichten, rückte aber beim Fotografieren auch meine Urgroßmutter mit ins Bild. So entstand dieses einzige Foto meiner Urgroßeltern mit mir, ihrem damals knapp einem Jahr alten Urenkel, dem letzten, den sie noch vor ihrem Tod im Winter 1992 kennenlernten. 22 Jahre nach der Aufnahme studierte ich Lehramt und schrieb in meiner Bachelorarbeit über die Kindheit meines Großvaters Harry Merl während des Zweiten Weltkriegs. Als ich einmal dieses Foto im Familienalbum betrachtete, wurde ich nachdenklich. Mir wurde bewusst, dass ich innerhalb dieser 22 Jahre wenig über die Familiengeschichte erfahren hatte. Was war mir bekannt? Ich wusste, dass die Vorfahren meines Großvaters aus einem Gebiet, das heute zur Ukraine gehört, stammten, obwohl sie Polnisch sprachen. Auch wusste ich, dass es einen Großvater gab, der während des Krieges anstatt auf feindliche russische Soldaten in die Luft gefeuert hatte. Und natürlich kannte ich einige Erzählungen meines Großvaters aus seiner Kindheit während der NS-Zeit in Wien. Einmal erzählte er sie meinen Geschwistern und mir, als ich ungefähr zehn Jahre alt war. Schlagwörter wie ausgeräumte Wohnungen, gelieferte Kohlen und Versteck im Keller blieben mir von seiner Erzählung in Erinnerung. Im Zuge seiner aktiven Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit führte er im April 2001 unsere Familie zu den Schauplätzen seiner Kindheit im Wien der 30er- und 40er-Jahre. Obwohl mich seine Erzählungen interessierten, wusste ich damals noch zu wenig über die jüdische Geschichte Österreichs und den Zweiten Weltkrieg, um seinen Erzählungen folgen zu können. In den späten 90er-Jahren, als meine Großeltern mit meinem Bruder, zwei meiner Cousins und mir oft eine Sommerferienwoche in Kärnten verbrachten, las uns mein Großvater am Abend vor dem Einschlafen gerne die Geschichten von Doktor Dolittle vor. Doktor John Dolittle ist die Hauptfigur der Kinderbücher des englischen Schriftstellers Hugh Lofting, der während des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben der Westfront die Geschichten schrieb, als er als Leutnant in der britischen Armee diente. Dolittle ist ein freundlicher Arzt, der in der fiktiven englischen Ortschaft Puddleby-on-the-Marsh lebt und die Sprache der Tiere spricht. Einige Jahre später schenkte mir mein Großvater eine Ausgabe von Doktor Dolittle und seine Tiere. Ich besuchte damals bereits die dritte Klasse Gymnasium und war mir beim Lesen nicht ganz sicher, ob die Geschichten des Doktors und seiner Abenteuer mit dem Papagei Polynesia, der Ente Dab-Dab und dem Schwein Göb-Göb für mein Alter nicht doch etwas zu kindlich waren. Letztendlich las ich das Buch fertig, vielleicht auch ein wenig aus Loyalität zu meinem Großvater, dem es ein Anliegen war, dass der Enkel das Buch besitzen und lesen sollte. Ich hatte keine Ahnung, welche Bedeutung Doktor Dolittle für ihn in seiner Kindheit gehabt hatte. Ohne mir bewusst zu sein, hatte sich mit dem Buch eine prägende Geschichte meines Großvaters in meinem Bücherregal eingefunden, in dem es noch immer steht. Auch als ich als Schüler etwas über den Nationalsozialismus und den Holocaust lernte, war mir nicht klar, dass diese Zeit viel mit meiner Familiengeschichte zu tun hatte. Als Zeitzeuge wurde einmal der Großvater einer Mitschülerin eingeladen, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat der Wehrmacht an der Ostfront gekämpft hatte und von seinen traumatischen Erfahrungen berichtete. Ich dachte in meiner Schulzeit nie daran, meinen Großvater als jüdischen Zeitzeugen des Nationalsozialismus und Holocaust in Wien in den Unterricht einzuladen. Der Gedanke kam mir ganz einfach nicht. Erst während meiner Recherchen für meine Bachelorarbeit setzte ich mich angeregt durch Erzählungen und schriftliche Zeugnisse meines Großvaters mehr mit seiner Familie auseinander und begann, in Büchern, im Internet und in Archiven in Wien zu recherchieren. So bekamen die emotionalen Farbflecken, also die bruchstückhaften Kindheitserinnerungen, wie sie mein Großvater nannte, einen Hintergrund und konnten verbunden werden. Bislang hatte es zur Geschichte seiner Familie wenige gesicherte Erkenntnisse, zahlreiche Mutmaßungen und einige Legenden gegeben, denn zumeist weigerten sich meine Urgroßeltern, über ihre Erinnerungen an die Jahre 1938 bis 1945 zu sprechen, sodass sich innerhalb meiner Familie die Überlieferung vor allem auf die Perspektive meines beim Anschluss dreijährigen Großvaters beschränkte. Als ich mich in die Fachliteratur zur Geschichte der Juden in Österreich vertiefte, stieß ich auf eine Volkszählung in der nunmehrigen Ostmark vom 17. Mai 1939. Die jüdische Bevölkerung wurde nach den Nürnberger Rassegesetzen in Volljuden, Glaubensjuden, Mischlinge I. Grades, Mischlinge II. Grades und Geltungsjuden klassifiziert. Da meine Urgroßeltern und mein Großvater als Juden der Kultusgemeinde angehörten, gehörten sie der Zählung nach in Wien sowohl zu den 91.350 Volljuden als auch zu den 79.919 Glaubensjuden. Als Person mit einem jüdischen Großelternteil hätte ich als Mischling II. Grades oder Vierteljude gegolten, die während des Nationalsozialismus zwar nicht verfolgt, aber diskriminiert wurden. Es war jüdischen Mischlingen zweiten Grades verboten, Juden oder andere Mischlinge zu heiraten. Auch im Bildungsbereich und im Berufsleben wurden sie diskriminiert, i…
Weitere Informationen
- Allgemeine Informationen
- GTIN 09783903190580
- Sprache Deutsch
- Auflage NED
- Größe H216mm x B153mm x T24mm
- Jahr 2023
- EAN 9783903190580
- Format Fester Einband
- ISBN 978-3-903190-58-0
- Veröffentlichung 10.07.2023
- Titel LASS DAS GEHEN
- Autor Pascal MERL
- Untertitel Eine jüdische Familiengeschichte im Spiegel des 19. und 20. Jahrhunderts
- Gewicht 858g
- Herausgeber Verlag am Rande
- Anzahl Seiten 460
- Lesemotiv Auseinandersetzen
- Genre Politik-, Gesellschafts- & Wirtschafts-Biografien