Liebeserklärung an die Ortenau
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Launiger Erlebnisbericht eines einjährigen Aufenthalts an der deutsch-französischen Grenz bei Kehl und Straßburg mit Erkundungstouren in die Umgebung beiderseits des Rheins.
Leseprobe
Leseprobe: Liebeserklärung an die Ortenau, S. 204221 17. Auf närrischer Entdeckungstour Fast ein ganzes Jahr ist vergangen, seitdem ich Ende April hier in Straßburg meine bescheidenen Zelte bei Claire aufgeschlagen habe. Eines ist mir seitdem bewusst geworden wie sonst kaum etwas, nämlich dass die Gepflogenheiten hier im Jahreslauf kaum Langeweile aufkommen lassen, dass die Menschen hier kaum Gefahr laufen, Trübsal zu blasen. Geradezu außer Atem könnte man kommen, wenn man an die vielen Bräuche, Festlichkeiten und kulturellen Veranstaltungen denkt, die einen hier über die Monate hinweg bei Laune halten, die mich gar in den Bann gezogen haben, weil sie oft erfrischend anders sind, als ich es aus meiner Heimat kenne. Kaum habe ich mich also durch die Weihnachtsfeiertage gehechelt und japsend den Jahreswechsel begangen, wird meine nicht immer unerschütterliche Ausdauer erneut auf die Probe gestellt, als spätestens nach dem Dreikönigstag die närrischen Hästräger in der Ortenau unterwegs sind. Zusätzlich zu all den über das Jahr verteilten Festen zählt sich so mancher Ort auf der badischen Rheinseite zu allem Überfluss auch noch zu den Hochburgen der überaus traditionsreichen schwäbisch-alemannischen Fastnacht, die seit einigen Jahren in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen ist. Gerne distanzieren sich daher die Badener mit ihrer von der UNESCO gewürdigten Straßenfastnacht und ihren musikbegleiteten Streifzügen durch die örtlichen Gaststätten vom niederrheinischen Karneval. Vom bayerischen Fasching sowieso. Auf jeden Fall geschehen ganz wundersame Dinge in den ersten Wochen des noch jungen Jahres: Ehedem zutiefst seriöse Menschen, verantwortungsvolle Väter, fürsorgliche Mütter, fleißig und pflichtbewusst ihrer Arbeit nachgehende Bürger verwandeln sich über Nacht in närrische, Schabernack treibende Figuren, streifen jegliche Vernunft und eine gute Portion ihres Verstandes von sich ab und ziehen in farbenfrohen Horden durch Dörfer und Städte, lauthals Narri, narro krakeelend. Über die mit Konfetti überhäuften Straßen und Plätze der fastnachtstreibenden Orte sind fortan zahllose buntscheckige Wimpel und Bänder gespannt. In den Gaststätten werden die altehrwürdigen Holzbalken, sämtliche Fenster und Lampenschirme großzügig mit Papiergirlanden und Fransenborten in allen erdenklichen Farben dekoriert. Immer wieder ertönen Trompeten und Posaunen, begleitet von Triangeln, Pauken und Trommeln jeglicher Art, die von maskierten Gugge-Musikanten mit Absicht falsch bespielt werden und dennoch mit viel Sinn für harmonische Rhythmen. Einem karnevalistischen Motto folgende, verkleidete Menschengruppen bevölkern Busse und Bahnen auf ihrem Weg zum nächsten Fastnachtstreiben. Aufwändig gestaltete Fastnachtswagen bremsen den unmaskierten Autofahrer aus, ganze Ortsdurchfahrten werden gesperrt, wichtige Straßenverbindungen gekappt und durch großräumige Umfahrungen ersetzt. Die Bäckereien verkaufen Fastnachtsküchle mit allen denkbaren Glasuren und Füllungen. Und die Zeitungen sind voll mit Bildern von originellen Kostümen und ihren stolzen Trägern. Kurzum, die ganze Ortenau steht Kopf. Deren größte Stadt Offenburg sieht sich dabei nicht ohne Stolz als die Geburtsstätte der legendären Fastnachtshexe, die dort in den 1930er-Jahren entstanden ist. Mit einer holzgeschnitzten Maske vor dem Gesicht erinnert sie an Hexen, wie sie in vielen Märchen geschildert werden. Die Erfindung war jedenfalls so bahnbrechend, dass die Hexenfigur heute die Fastnacht im Südwesten dermaßen dominiert, dass ich bei von Zünften organisierten Straßenumzügen in Willstätt, Gengenbach, Biberach oder eben Offenburg ab und an die Kreativität der badischen Narren anzweifle. Entrüstet gab mir vor Kurzem eine ältere Frau, selbstverständlich als Hexe verkleidet, schroff zur Antwort: Sie haben ja keine Ahnung! Das ist überlieferte Tradition. Da könnt ihr mit eurem bayerischen Fasching gar nicht mitreden! Zutiefst verächtlich spuckte sie das Unwort Fasching aus, das in Baden für planlose Maskerade ohne jeglichen Bezug zu historischen Überlieferungen steht. Mein Hexenkostüm trage ich bereits ein ganzes Leben lang. Sehen Sie sich meine Holzlarve an, wie aufwendig sie hergestellt ist und wie reichlich sie dekoriert ist! Tatsächlich musste ich ihre Hexenmaske bestaunen, die sorgfältig eingeschnitzten Gesichtszüge, die liebevoll gestalteten Warzen auf der Nase, die furchteinflößend ausgearbeiteten Augen und die kreuz und quer stehenden Zähne. Und jede Hexenlarve ist anders! Die Geschichten dahinter sowieso. In meiner stecken Erlebnisse von mehreren Jahrzehnten. Ein Einmal-Fastnachtskostüm, so wie man es bei euch handhabt, käme für mich nicht in Frage! Die etwas verärgerte Frau schaffte es jedenfalls mit ihrem ganzen Stolz auf die hiesigen Hexentraditionen, dass ich den badischen Fastnachtsbräuchen fortan mehr Ehrfurcht entgegenbringe. Und wenn Sie genau hinsehen, werden Sie auch viele andere Hästräger herumhüpfen sehen. Gewiss, sie hatte recht. Ab und an fügen die farbenfroh ausstaffierten Narrenfiguren mit ihrem eingeschnitzten schelmischen Lachen dem bunten Treiben weitere Farbtupfer hinzu, wenn sie mit ihren Glocken heiter läutend an den Besuchern vorbeiziehen. Ebenso sind manche als Tiere oder Sagenfiguren verkleidet. Und immer wieder springt auch eine schaurige Teufelsgestalt zwischen den Hexen umher, listig dreinblickend aus ihrem fegefeuerverkohlten, glutroten Gesicht, bestückt mit fiesen Hörnern und verfinstert durch einen gruselig wuchernden Bart. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die auf der Wolfacher Fastnacht herumgeisternden Nussschalenhansele. Von Kopf bis Fuß mit zahllosen Nussschalen bestückt, ziehen sie samt ihren gütig lächelnden Holzmasken ihre Bahnen durch die malerische Altstadt des Schwarzwaldorts. Oder die Bändelenarros aus Zell am Harmersbach, die über dem ganzen Körper Papierbänder in wechselnden Farben tragen und über dem Kopf ein holzgeschnitztes, grinsendes Männergesicht. Dennoch vermisse ich nach den vielen Straßenumzügen der Fastnachtszünfte die kreativ gestalteten Kostüme, wie sie in Bayern oft von kleineren Gruppen in aufwendiger Heimarbeit liebevoll genäht, geflickt und dekoriert werden. Ich gehe schon seit Jahren auf keinen Umzug mehr. Hexen, Hexen, Hexen , pflichtet wenigstens Jürgen mir bei, wenngleich er sofort anmerkt, dass er dennoch früher ein großer Freund der alemannischen Fastnacht war und begeistert beim Spielmannszug mitgewirkt hat. Aber ich weiß, mit wem du auf eine Straßenfastnacht gehen könntest, die ganz ohne Narrenzünfte und die üblichen Traditionen auskommt. So stehe ich am Fastnachtssonntag um Punkt zwölf vor dem Kehler Rathaus und warte auf Jürgens Cousine. Susi hat ihm zugesagt, dass sie mich mitnehmen würde nach Bodersweier, zu einer eher unprätentiösen Fastnacht im besten Sinne des Wortes. Mit kratziger Piratenperücke, einem federbestückten Dreispitzhut und bewaffnet mit einem Säbel warte ich nun geduldig auf meine Begleitung. Diese erscheint schließlich auch, gleich doppelt, denn von einem Augenblick auf den anderen stehen vor mir zwei frohgemute Frauen mittleren Alters, beide mit buntem Faschingshut, unter dem bei beiden schulterlanges, blondes Lockenhaar hervorquillt. Beide tragen bunt zusammengeflickte Umhänge, pechschwarze, überdimensionierte Sonnenbrillen und lilafarbene Glitzerhosen. Und beide grinsen mich mit ihren schmalen Lippen vergnügt an. Nein, wir sind keine Zwillingsschwestern, kommt Susi einer erstaunten Bemerkung von mir zuvor, das ist Sabine, eine Freundin seit Kindesalter. Dann geben wir uns also dieses Jahr mit einem Bayern ab, der mal richtig Fastnacht feiern möchte, bemerkt Sabine spitz und prüft mich dabei vom Scheitel bis zur Sohle. Sie hebt dabei ihre Augenbrauen so hoch an, dass sie in einem weiten Bogen hi…
Weitere Informationen
- Allgemeine Informationen
- GTIN 09783885714002
- Auflage 21001 A. 1. Auflage
- Sprache Deutsch
- Genre Reiseberichte Schweiz und Europa
- Größe H209mm x B133mm x T18mm
- Jahr 2021
- EAN 9783885714002
- Format Kartonierter Einband
- ISBN 978-3-88571-400-2
- Veröffentlichung 15.10.2021
- Titel Liebeserklärung an die Ortenau
- Autor Bastian Schumann
- Untertitel Begegnung eines Bayern mit einer badischen Genussregioon
- Gewicht 336g
- Herausgeber Morstadt, A.
- Anzahl Seiten 246
- Lesemotiv Entdecken