Was wir für wahr gehalten haben
Details
Tennessee, 1969: Seit dem Tod ihres Zwillingsbruders Mark ist Mattie Taylor auf der Flucht vor ihrem Zuhause, ihrer Familie und dem Schmerz, der sie nicht loslässt. Doch als sie erfährt, dass ihre Mutter im Sterben liegt, kehrt sie widerstrebend nach Hause zurück. Dort erwartet sie nicht nur eine angespannte Atmosphäre, sondern auch eine geheimnisvolle Truhe voller Briefe aus der Vergangenheit. Wer war Gunther Schneider und warum scheinen die alten Briefe Matties eigenes Leben auf den Kopf zu stellen? Tennessee, 1942: Ava Delaney hat alles verloren ihren Ehemann, ihre Zukunftspläne, ihre Hoffnung. Um nicht an ihrer Trauer zu zerbrechen, nimmt sie eine Stelle in einem Internierungslager an. Dort begegnet sie Gunther, einem Medizinstudenten, der nur wegen seiner deutschen Herkunft als Feind gilt. Je mehr Ava ihn kennenlernt, desto stärker zweifelt sie an den Wahrheiten, die ihr beigebracht wurden und steht bald vor einer Entscheidung, die ihr ganzes Leben verändert. Zwei Frauen, zwei Zeiten und ein Geheimnis, das alles infrage stellt. Ein ergreifender Roman über Liebe, Verlust, Vorurteile, Vergebung und die Suche nach dem eigenen Ich.
Autorentext
Michelle Shocklee ist als Autorin in mehreren Genres unterwegs, brennt jedoch vor allem für historische Romane. Sie hat ihre Jugendliebe geheiratet und ist Mutter von zwei erwachsenen Söhnen. Aufgewachsen in New Mexico, lebt sie heute in Tennessee, nicht weit von den Schauplätzen ihrer Bücher. www.michelleshocklee.com Instagram: michelleshocklee Facebook: Author Michelle Shocklee
Leseprobe
Tullahoma, Tennessee November 1969 Das erste Telegramm, das ich in meinem ganzen Leben gelesen hatte, hatte meine Welt erschüttert. Das zweite kam ein Jahr später und zog mir den wenigen Boden unter den Füßen weg, den ich in diesen langen, bedrückenden Monaten mühsam wiedergefunden hatte. Wegen dieses Telegramms saß ich seit drei Tagen am Stück in diesem schmutzigen Greyhound-Bus. Mir graute davor, was mich am Ende meiner Fahrt erwarten würde. Deine Mama liegt im Sterben. Sie braucht dich. Komm nach Hause. Die kurze Nachricht war von Papa gekommen. Es war keine Bitte. Die kühle Abendluft wehte den Gestank der Dieselabgase durch das halb geöffnete, schmutzverschmierte Fenster ins Innere des Busses, als er in den Busbahnhof bog mit zwei Stunden Verspätung aufgrund eines Unfalls auf der Landstraße vor Pulaski. Eine Handvoll Leute standen vor dem Gebäude und warteten auf Angehörige oder Freunde, aber nach einem schnellen Blick über die Gesichter war mir klar, dass Papa nicht unter ihnen war. Ich war enttäuscht und gleichzeitig besorgt und voller Angst, die mich seit dem Telegramm von ihm gar nicht mehr losließ. Kein einziges Wort, dass ich willkommen sei, kein Versprechen auf eine Versöhnung. In seiner Nachricht stand lediglich, dass meine Mutter nicht mehr lange leben würde und mich zu Hause brauchte. Sie brauchte mich zu Hause. Und er? Mehrere Fahrgäste nahmen ihr Gepäck und begaben sich durch den Mittelgang zum Ausgang. Ich schloss die Augen und lehnte die Stirn an die kühle Fensterscheibe, da die Entscheidung, mit der ich rang, seit ich in Los Angeles in diesen Bus gestiegen war, immer noch nicht feststand. Sollte ich aussteigen und mich allem und jedem stellen, was ich seit Marks Tod zu vergessen versuchte? Oder blieb ich im Bus sitzen, fuhr in die nächste Stadt weiter und schlug damit die Tür zu meinem Zuhause für immer zu? Ich hatte geschworen, nie wieder nach Tullahoma zurückzukommen. Als ich zornig und voller Trauer an jenem eisigen Novembertag vor einem Jahr aus dem Haus gestürmt war, hatte ich keinen einzigen Blick zurückgeworfen. Warum auch? Mark war tot. Mein Zwillingsbruder war meine Welt gewesen, auch als er auf der anderen Seite der Erde in einem Krieg gekämpft hatte, den ich nicht befürworten konnte. »Miss?« Ich schlug die Augen auf. Der grauhaarige Mann, der in Little Rock das Steuer übernommen hatte, stand vor mir und sah mich an. »Sie müssen hier aussteigen, nicht wahr?« Ich blickte hinter ihn. Die anderen Fahrgäste, die Fahrkarten nach Tullahoma gekauft hatten, waren nicht mehr zu sehen. Der Moment der Entscheidung war gekommen. Ein Blick durchs Fenster zeigte die verschlafene Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war. Diese Stadt hatte ich nie wiedersehen wollen. Aber ich konnte Mama doch nicht im Stich lassen. Nicht jetzt. Nicht schon wieder. »Ja, ich steige aus«, sagte ich. »Ich muss nur noch meine Sachen zusammenpacken.« Der Fahrer nickte und kehrte zum Fahrersitz zurück. Während ich meinen Pullover und ein halb gegessenes Sandwich in meine Reisetasche stopfte, schaute mich die ältere Frau auf der anderen Seite des Gangs finster an, verärgert, dass sie durch meine Trödelei noch später als ohnehin schon in Nashville ankommen würde. Seit sie in Albuquerque eingestiegen war, hatte sie mich nicht ein einziges Mal freundlich angesehen, sondern mich kritisch beäugt und mich von Kopf bis Fuß gemustert meine weit ausgestellte, ausgefranste Jeans, meine bunt bedruckte, weite Bluse und mein langes Haar, das dringend gewaschen werden musste. »Hippie«, hatte sie abfällig gemurmelt, als sie auf ihrem Sitz Platz genommen hatte. Der Bus war nicht voll besetzt. Dadurch hatten die meisten Fahrgäste eine Sitzbank für sich allein, aber die Verachtung in ihren Augen, als sich unsere Blicke begegnet waren, hatte deutlich gezeigt, dass eine freundliche Unterhaltung während der langen Fahrt nicht infrage kam. Das war mir auch ganz recht gewesen. Während ich mich durch den schmalen Gang nach vorn schob, folgten mir noch mehr finstere Blicke. Niemand bot an, mir mit meiner schweren Tasche zu helfen, nicht einmal der Busfahrer, der eine abgegriffene Straßenkarte mit Eselsohren studierte und mich völlig ignorierte. Noch bevor meine Füße den Asphalt richtig berührten, schloss er schon hinter mir die Tür, legte den Gang ein, gab Gas und hüllte mich in eine schwarze Wolke aus Abgasen. Hustend und schimpfend überlegte ich, was ich jetzt tun sollte. Papa wusste, dass ich kam. Ich hatte ihm per R-Gespräch von Memphis aus mitgeteilt, wann der Bus ankommen würde. Es war das erste Mal nach zwölf Monaten gewesen, dass ich mit ihm gesprochen hatte. Nach einer langen Pause hatte er erklärt, dass er mich abholen würde, und dann aufgelegt. Aber er war nicht da. Suchend sah ich mich auf dem Parkplatz um. Zwei Autos und ein alter Pick-up waren zu sehen, aber ich kannte keines dieser Fahrzeuge. Mir blieb wohl keine andere Wahl, als ins Bahnhofsgebäude zu gehen und zu fragen, ob ich das Telefon benutzen dürfte, da ich mein letztes Geld für das Sandwich ausgegeben hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich besorgt, ob Papa es sich anders überlegt hatte. Vielleicht wollte er mich doch nicht hier haben. Oder Mamas Zustand hatte sich verschlechtert und »Mattie?« Beim Klang dieser Männerstimme zuckte ich zusammen. Ich drehte mich um und stand einem großen Mann in Jeans gegenüber. Er lehnte an dem Pick-up auf dem Parkplatz, dessen offene Fahrertür verriet, dass er schon die ganze Zeit im Wagen gesessen hatte. Durch die Baseballkappe, die er sich so tief in die Stirn gezogen hatte, dass ein Schatten auf sein Gesicht fiel, konnte ich nicht erkennen, wer er war. Wahrscheinlich jemand, der mit mir zur Schule gegangen war, aber ich hatte absolut keine Lust, mit irgendjemandem über alte Zeiten zu plaudern. »Sie müssen mich mit jemandem verwechseln«, erwiderte ich und setzte meinen Weg zum Bahnhofsgebäude fort. Er stieß ein humorloses Lachen aus. »Dieselbe eigensinnige Mattie Taylor wie immer.« Ich drehte mich wieder zu ihm um und kniff die Augen zusammen, um sein Gesicht erkennen zu können. Mir fiel die Kinnlade herunter. »Nash?« »Du hast wohl nicht damit gerechnet, mich hier zu sehen?« Seine Frage wäre lachhaft gewesen, wenn nicht plötzlich ein stechender Schmerz mein Herz durchbohrt hätte, weil er am Leben war und unversehrt hier vor mir stand. Warum war Nash McCallum aus dem Krieg nach Hause gekommen und Mark nicht? Er bewe…
Weitere Informationen
- Allgemeine Informationen
- GTIN 09783963624902
- Editor Silvia Lutz
- Übersetzer Silvia Lutz
- Auflage Auflage
- Genre Familien- & Generationenroman
- Lesemotiv Leichtlesen
- Anzahl Seiten 384
- Herausgeber Francke-Buch GmbH
- Gewicht 442g
- Autor Michelle Shocklee
- Titel Was wir für wahr gehalten haben
- Veröffentlichung 17.06.2025
- ISBN 978-3-96362-490-2
- Format Kartonierter Einband
- EAN 9783963624902
- Jahr 2025
- Größe H205mm x B135mm x T27mm
- Sprache Deutsch