EUROPA. Das Reich des Lesens

Die Besonderheit Europas hat ihren Grund in einem besonderen Umgang mit Schrift: Es entstand in einem streckenweise verheerenden Kampf um das allgemeine Recht auf Schriftnutzung.

Die Besonderheit Europas hat ihren Grund in einem besonderen Umgang mit Schrift, und dieser rührt daher, dass an einem Punkt der europäischen Vorgeschichte die Nutzung einer bestimmten Schrift unkontrollierbar wurde. Konnten bis dahin nur Personen mit genau definierter und geregelter Aufgabe lesen (und noch deutlich weniger Leute schreiben), so wurde Schrift nun zu einem Medium, dass grundsätzlich alle verwenden konnten und tatsächlich auch zunehmend mehr Leute verwendeten. Die traditionellen Schriftnutzer hielten dagegen, hegten einen Teil der neuen Lektüre in gut kontrollierbaren Institutionen ein, verboten darüberhinausgehendes, unbefugtes Lesen, das Reden über das Gelesene sowie das Übersetzen von Schriften in die allen verständliche Alltagssprache, verfolgten Zuwiderhandelnde zunehmend blutig, auf die Dauer erfolglos. Europa entstand in einem streckenweise verheerenden Kampf um das allgemeine Recht auf Schriftnutzung.

Autorentext
Leonhard Schmeiser studierte in Wien und Paris Philosophie und Pädagogik und unterrichtete an den Universitäten Wien und Linz Philosophie und Kulturwissenschaft. Seit zwei Jahrzehnten arbeitet er als Übersetzer und Autor. Weitere Buchpublikationen: Das Werk des Druckers. Untersuchungen zum Buch "Hypnerotomachia Poliphili" (Edition Roesner 2003) Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft (Wilhelm Fink Verlag 2002) Allgemeine Theorie der Mitteilung (Peter Lang Verlag 2001) Um Newton. Zur Rekonstruktion eines diskursiven Ereignisses (Sonderzahl Verlag 1999) Blickwechsel. Descartes Lacan Foucault Velázquez. (Sonderzahl Verlag 1991)